Offener Brief "Vorgehen bei Abschiebungen"

Offener Brief an die Landrätin Andrea Jochner-Weiß, die Polizei Inspektion Schongau, den bayerischen Innenminister Joachim Herrmann und die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Sehr geehrte Damen und Herren,
kurz vor Weihnachten 2021 kam es in unserem Landkreis Weilheim-Schongau zu einer versuchten Abschie-bung einer nigerianischen Familie, die wir nicht unkommentiert lassen können: Familie A. wurde am Montag-abend, den 13.12.2021, gewaltsam aus ihrer Wohnung abgeholt und zum Flughafen München gebracht. Von dort aus sollten sie nach Nigeria abgeschoben werden. Insbesondere die Vorgehensweise der Polizei hat uns dabei sehr schockiert.
Nach unserer Auffassung wurde unverhältnismäßige Gewalt eingesetzt. Beide Elternteile, die sich in keiner Phase zur Wehr gesetzt haben, trugen dabei körperliche Schäden davon. Die psychischen Folgen, insbeson-dere für die beim Vorgang anwesenden vier minderjährigen Kinder, sind nicht absehbar.
Besorgt fragen wir uns, ob dieses Vorgehen die Ausnahme oder eher die Regel ist. Von diesem aktuellen Vor-gang und dem Vorgehen haben wir letztendlich nur erfahren, weil die Abschiebung in letzter Minute ausgesetzt wurde.
Unsere Forderung ist daher eindeutig: Ein solches Vorgehen darf sich im Sinne der Menschen, im Sinne der Polizisten, die diesen Einsatz vornehmen müssen und im Sinne des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland nicht wiederholen!
An die Landrätin Frau Jochner-Weiß und die zuständigen Polizeiinspektionen
Eine Abschiebung ist für alle Beteiligten ein sehr belastender Vorgang. Vor allem für die betroffenen Men-schen, aber auch für die eingesetzten Polizeibeamt*innen.
Wir bitten Sie, Frau Jochner-Weiß, dass Sie die Mitarbeitenden im Sachgebiet 33 Ausländer-amt/Aufenthaltsrecht des Landratsamtes auffordern, vor jeder Abschiebung individuell zu prüfen, inwie-fern vorhandener Ermessensspielraum eine Abschiebung ggf. verhindern kann. Hierzu sollten auch andere Behörden wie Jugendamt / Gesundheitsamt, ggf. Fachärzte hinzugezogen werden.
Wir bitten Sie, Frau Jochner-Weiß, die Mitarbeitenden der Bezirksbetreuung des Sachgebietes 34 Asyl und Integration, die im Zuge einer Abschiebung Amtshilfe leisten müssen, darauf hinzuweisen, dass sie innerhalb ihrer Aufgabe auf die Verhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes hinwirken können und müssen. Wo trotz aller Bemühungen dies nicht erreicht werden kann, ist eine umfassende Dokumentation des Geschehens erfor-derlich, auch zur Wahrung von Rechtsansprüchen Geschädigter.
Wir bitten Sie, Frau Jochner-Weiß, darauf hinzuwirken, dass bei Abschiebungen von Familien mit Kindern vorher geprüft werden sollte, ob die Anwesenheit von entsprechend ausgebildetem Fachpersonal (z.B. Sozi-alpädagog*innen, Seelsorger*innen) notwendig ist. Hierzu sollte ggf. das Jugendamt mit einbezogen werden.
Im Rahmen einer Abschiebung wird das Grundrecht auf Unverletzbarkeit der Wohnung (Art. 13 GG) verletzt. Das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ von 2019 hat diesen Bereich in § 58 Abs. 4 bis 9 AufenthG aufgegriffen. Darin ist das Betreten bzw. Durchsuchen von Wohnungen zum Zwecke der Abschiebungen geregelt. Da die Unverletzbarkeit der Wohnung laut Bundesverfassungsgericht in engem Zusammenhang mit der Würde des Menschen steht, welche „zu achten und zu schützen […] Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ ist (GG Art. 1 Abs. 1), ist hier eine besondere Sensibilität erforderlich. Grundrechte gelten für alle Menschen.
Wir bitten Sie, Frau Jochner-Weiß, darauf hinzuwirken, dass die Grundrechte eingehalten werden.

Sehr geehrter Herr Innenminister Joachim Herrmann,
Hinter jeder Abschiebung (Rückführung) verbirgt sich ein Mensch, dessen Leben durch diese staatliche Maß-nahme eine fundamentale Änderung erfährt und der sich dadurch in einer absoluten Ausnahmesituation befindet. Ganz besonders trifft dies auf Familien mit minderjährigen Kindern zu, die in ihre Herkunftsstaaten rückgeführt werden sollen. Auch für die Polizeibeamt*innen, die eine Abschiebung durchführen müssen, stellt dieser Vorgang eine Maßnahme dar, die sie in besonderer Weise fordert.
Wir bitten Sie, Herr Herrmann, sich dafür einzusetzen, dass spezielle Schulungen der bei Abschiebungen eingesetzten Beamt*innen verpflichtend sind.
Wir sehen dabei folgende Schwerpunktbereiche:
•    Vertieftes Rechtswissen, hier besonders Grundgesetz z.B. Art.1(Die Würde des Menschen…)  und Art.13 (Unverletzlichkeit der Wohnung…) GG
•    Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
•    Deeskalationstrainings und -strategien, hierbei insbesondere der Verzicht auf unverhältnismäßige und unangemessene Gewaltanwendung  
•    Basiswissen zu den Themen Flucht und Asyl
•    Schulung von interkulturellen Kompetenzen
Wichtig ist zudem die Beachtung spezieller Bedürfnisse von Frauen, bei Krankheiten/ körperlichen Einschränkungen, Medikamenteneinnahme etc. Die spezifischen Bedarfe der bei Familienabschiebungen beteiligten Kinder und Jugendlichen gilt es zu berücksichtigen. Deshalb betrachten wir hier ein besonders sensibles Vor-gehen der Beamt*innen als unabdingbar.
Darunter verstehen wir:
•    Hinzuziehen von psychologisch geschultem Personal
•    Weibliches Personal für Frauen und Mädchen
•    Ein Vorgehen, das auf der Grundlage von Kinderrechten Standards für die Bedarfe von jungen Menschen definiert und anerkennt.
•    Keine Abschiebungen von Eltern/Elternteilen, wenn dadurch die Familie getrennt wird.
•    Verzicht auf einen Nachtflug
•    Begleitung zum Flughafen von einer der Familie vertrauten Person


Sehr geehrte Frau Bundesinnenministerin Nancy Faeser,
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition wird angekündigt, dass es einen „Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik geben wird, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird“. Wir unterstützen dieses Vorhaben sehr! Im Vertrag steht auch: „Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben.“ (S.140) Das ist richtig. Abschiebungen sind für die Betroffenen immer mit großer Angst, Verunsicherung oder Ver-zweiflung verbunden.
Deshalb bitten wir um besondere Berücksichtigung der folgenden Aspekte:
•    Ein echter „Spurwechsel“ kann Abschiebungen verhindern, die zudem mit hohen Kosten für deutsche Steuerzahler*innen verbunden sind
•    Eine individuelle Fallbetrachtung
•    Motivation der Landesbehörden durch das Bundesinnenministerium vorhandene Ermessenspielräume zu nutzen
•    Eine bundesweite Vereinheitlichung der geltenden Rechtsprechung und deren Anwendung
Wir sind den grundlegenden Werten des christlichen Glaubens, der UN-Kinderschutzkonvention und der Verfassung Deutschlands verpflichtet. Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie gilt allen Menschen – weltweit.

unterschrieben haben den Brief:
Wilfried Knorr - Diakonie Herzogsägmühle
Stefan Helm - Diakonie Oberland
Thomas Koterba -  Caritasverband Weilheim-Schongau
Mechthild Hommel -  Missionsbenediktinerinnen Bernried
Sabine Nagel - evangelische Kirchengemeinde Weilheim
Dr.Joachim Jacob - unserVeto Bayern
Lisa Hogger, Jost Herrmann -  Förderverein Asyl im Oberland e.V.