Mahnwache gegen Abschiebungen in Bernried

19. Januar 2022- Klosterhof

Liebe Bernriederinnen und Bernrieder,

im Namen des Flüchtlings-Unterstützerkreises und unserer nigerianischen Nachbarn bedanke ich mich ganz herzlich dafür, dass Sie heute hier erschienen sind, um Ihre Solidarität auszudrücken. Es stimmt uns äußerst hoffnungsvoll, dass Sie unserem Aufruf zur Solidaritäts- und Mahnwache für unsere beiden nigerianischen Familien gefolgt sind.

Seit 2016 wohnen wir hier in Bernried Seite an Seite, haben uns liebgewonnen und gegenseitig schätzen gelernt. Gemeinsam haben wir die vergangenen fünf Jahre gemeistert, kamen uns sowohl kulturell, als auch menschlich näher. Die bisherige Zeit war in vielerlei Hinsicht geprägt von Höhen und Tiefen: Erfolg und Misserfolg, Ungeduld und Misstrauen, mentaler Erschöpfung, von Hoffnung, aber vor allem auch immer wieder von Ängsten.

Als wir Frau Esosa Osabuohien, Frau Susan Job und Herrn Efosa Emovon willkommen hießen, gab es breite Unterstützung und Hilfe aus Bernried. Das war die Grundlage um hier anzukommen, sich zu akklimatisieren, die nie enden wollende Bürokratie und vieles, vieles mehr zu bewältigen. Dem ein oder anderen gelang es, einer Arbeit nachzugehen, um sie dann auf behördliche Anweisung hin wieder zu verlieren. Den meisten wird von Behördenseite bis heute keine Arbeitserlaubnis erteilt, geschweige denn die finanzielle Unterstützung für einen Integrations- und Sprachunterricht zugesagt.

Welche Leistung und Disziplin mussten unsere nigerianischen Neuankömmlinge aufbringen, um alles richtig zu machen, selbst wenn sie oftmals nicht verstehen konnten, worum es im Detail ging. Jeder weiß, wie schwer es für einen Ausländer ist, die deutsche Sprache zu lernen. Noch komplizierter wird es, als Nicht-Muttersprachler die Sprache der Behörden zu verstehen. Darüber hinaus die großen bürokratischen Herausforderungen, die unser gesellschaftliches Leben regeln, als Neuankömmling mit höchstens rudimentären Deutschkenntnissen zu bewältigen, ist ohne die Unterstützung von hier Einheimischen so gut wie gar nicht möglich.

Auch wir Bernrieder und Bernriederinnen und der Unterstützerkreis mussten „Verstehen“ lernen. Unterschiedliche Kulturen haben auch unterschiedliche Normen und Werte, wie das gesellschaftliche, soziale und familiäre Leben auszusehen hat oder auch, was das Rollenverständnis der Geschlechter anbelangt. Für beide Seiten galt es, Gemeinsamkeiten, aber auch die Verschiedenheiten, die kulturelle Herkunft mit sich bringt, kennen und akzeptieren zu lernen.

Nichtsdestotrotz lebten sich die Familien sehr gut in unsere Dorfgemeinschaft ein. Ganz selbstverständlich gehören die nigerianischen Familien zu unserem Dorfbild, wie jeder andere "Zugreiste" unter uns auch. Die Kinder sind in Kindergarten und Schule bestens integriert, spielen Fußball im SVB, die Väter helfen bei den Papiersammlungen,  engagieren sich freiwillig und unentgeltlich, wo und wann immer es ihnen möglich ist.

Eigentlich hört sich alles nach einer Erfolgsgeschichte an, doch es gibt auch eine zweite Seite der Geschichte - basierend auf den Auswirkungen unseres (seit) 1993 geschrumpften Asylrechts und den mangelnden, ernsthaften Regelungen Deutschlands als Einwanderungsland.

Unseren Familien und vielen tausend Anderen in Deutschland und gar in der EU, wird vorgeworfen, gar keine „Flüchtlinge“ zu sein. Sie seien ja nur aus wirtschaftlichen Gründen gekommen. Es führte an dieser Stelle zu weit, die Zusammenhänge zwischen den Machtverhältnissen des Nordens gegenüber dem Süden bzw. den Machtverhältnissen des Westens gegenüber dem Rest der Welt und den sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ deutlich zu machen.

Susan, Efosa, Esosa und Marvelous machten sich auf den immens gefährlichen Weg, um überhaupt eine Chance für sich und ihre Kinder auf eine Zukunft zu haben. Sie vertrauten auf die vom christlichen Abendland so oft postulierten Bekenntnisse und Versprechen im Hinblick auf Menschenwürde und Menschenrechte. Sie sehnten sich nach Daseinsberechtigung.

Im Laufe der letzten sechs Jahre haben wir alle eine deutliche Verschärfung in der Rechtsauslegung des Bleibe- und Aufenthaltsgesetzes erlebt. Es gab immer wieder verschärfende Verordnungen. Der Ermessensspielraum wurde je nach Bundesland und Landratsamt enger und enger ausgelegt und angewendet. Bayern ist, wie so oft, auch in diesem Punkt die Nummer eins und der Landkreis geht mit.

In Asylhelfer- und Juristenkreisen fallen häufig die Begriffe „Zermürbungstaktik“ oder „Vergrämung“. Wir erleben die Situation der Geflüchteten als psychisch immens belastend, für die Betroffenen fühlt es sich beinahe wie „Psychoterror“ an.  Denn es scheint darum zu gehen, die Menschen zur Aufgabe ihres Bestrebens, sich hier niederzulassen, zu bewegen und sich für eine sogenannte „freiwillige Rückkehr“ zu entscheiden, wenn die üblichen rechtlichen Mittel nicht ausreichen.

An dieser Stelle möchte ich den Anwalt Matthias Lehnert zitieren, der sagt: „Hilfe zu freiwilliger Rückkehr ist ein Angebot, das Recht auf Schutz zu verkaufen. Bei Hilfe zu freiwilliger Rückkehr geht es weder um Hilfe, noch um Freiwilligkeit. (….) Und es hat nichts mit Freiwilligkeit zu tun, wenn Menschen vor die Wahl gestellt werden, eine staatlich gestützte Rückkehr in Anspruch zu nehmen oder von einer gewaltvollen Abschiebung bedroht zu sein.“

Unsere nigerianischen Freunde leben in ständiger Angst vor der drohenden Abschiebung und den entsprechenden Maßnahmen. Abschiebung in ein Land, das sie nicht haben wollte und nicht haben will und das ihnen kein verträgliches Leben ermöglicht.

Sie möchten sich integrieren, sie möchten Ihren Beitrag zur Gemeinschaft beisteuern: arbeiten gehen, eine Ausbildung machen, dauerhaft in Bernried/ in Deutschland bleiben und bekommen doch so oft von Behördenseite Steine in den Weg gelegt. Für die Kinder, hier in Deutschland geboren, ist Deutschland ihre Heimat. Sie kennen kein anderes Land. Ihr Herkunftsland ist Deutschland, in Bernried wachsen sie auf und haben hier einen Freundeskreis aufgebaut, doch das spielt im Asylrecht leider keine große Rolle. Sie nach Nigeria abzuschieben, würde die gesamte Familie traumatisieren, das kann sich, denke ich, jeder vorstellen.

„Arbeit“ im Übrigen -nehmen wir das Stichwort-, die Hiesige nicht unbedingt auf der Wunschliste haben und für die hier am Ort und andernorts händeringend Mitarbeiter:Innen gesucht werden. Sie möchten Vorbild und Chance für ihre Kinder und deren Zukunft sein. Ist das verwerflich?

Liebe Bernriederinnen und Bernrieder,
heute haben wir uns hier öffentlich versammelt, um als Bürgerinnen und Bürger dieses Landkreises Weilheim-Schongau an alle zuständigen Politikerinnen und Politiker, vor allem an unsere Landrätin Fr. Jochner-Weiß und an die Verantwortlichen der Behörden zu appellieren:
Setzen Sie sich bitte intensiv dafür ein und nutzen alle möglichen Ermessenspielräume, die die Gesetze und Verordnungen erlauben. In anderen Landkreisen ist dies auch möglich. Wir vertrauen darauf, dass es auch hier bei uns noch Chancen für die betroffenen Familien gibt.
Sehen Sie gemeinsam mit uns gelassen den kommenden Möglichkeiten entgegen, die die Ampelkoalition bieten. Der Koalitionsvertrag sagt zum Thema „Integration, Migration, Flucht“ auf Seite 137:

„Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht wird. Dafür brauchen wir einen Paradigmenwechsel.

Wir werden das komplizierte System der Duldungstatbestände ordnen und neue Chancen für Menschen schaffen, die bereits ein Teil unserer Gesellschaft geworden sind: Besondere Integrationsleistungen von Geduldeten würdigen wir, indem wir nach sechs bzw. vier Jahren bei Familien ein Bleiberecht eröffnen (§ 25b AufenthG)

Der bisherigen Praxis der Kettenduldungen setzen wir ein Chancen-Aufenthaltsrecht entgegen: Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig  geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine  einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen (insbesondere Lebensunterhaltssicherung und  Identitätsnachweis gemäß §§ 25 a und b AufenthG).  

Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab.“

In diesem Sinne wenden wir uns in voller Solidarität für unsere nigerianischen Mitbürgerinnen und Mitbürger an Sie, liebe Frau Landrätin Jochner-Weiß und Entscheidungsträger des Ausländeramtes und bitten um Ihre Unterstützung, für unser nigerianischen Familien ein Bleiberecht zu erwirken.

Vielen Dank

 

Plakat
Bildrechte: Asyl im Oberland